Dienstag, 7. April 2015

Kapitel 1 aus dem angefangenen Buch


Kapitel 1: Ich lerne jemanden neu kennen
Es war ein Tag wie jeder andere, die Kinder in der Schule, ich habe den Vormittag noch Einiges zu erledigen und mal wieder fand ich keine Zeit mich hinzusetzen und einfach normal zu essen. Ich lief durch die Wohnung, machte dies und das und so merkte ich nicht, dass ich langsam hungrig werde. Die Alarmlampe leuchtete erst auf, als ich ein unglaublichen Kohldampf hatte. Ja, einen Bärenhunger. Ich ging in die Küche, aß davon ein Stückchen und hiervon einen Happen und hatte am Ende doch ein Völlegefühl im Bauch.
Am liebsten hätte ich mich hingelegt, aber mit vollem Magen? Nee, da kommt ja das ganze Essen hoch. Und erbrechen sollte ich doch nicht. Das ist nicht gesund und so. Ich machte mir einen Kamillentee, sah auf die Uhr und wusste, dass ich noch eine gute halbe Stunde hab, bis ich die Kinder abholen muss. Auf dem Balkon, auf meinen Sitzsack, da ließ ich mich hin plumpsen. Ich sippte an dem Tee und das Gedankenkarusell raste wieder vor mir. „Du hast wieder zu viel gegessen. Du wirst immer übergewichtig bleiben. Du hast ja Null Willenskraft...“ So und ähnlich drehte es sich in meinem Kopf.
Plötzlich sprang eine graue Katze auf den Balkonsims und sah mich neugierig an. Keine Scheu, keine Angst, völlig frei und authentisch kam sie näher und schnurrte laut.
- Na, mal wieder am Selbstzerfressen?
Was? Was ist das denn? Habe ich das gerade wirklich gehört? Aber Katzen können doch nicht reden!
- Und ob wir das können. Nur hört man uns nicht immer zu, - hörte ich wieder.
Die Stimme kam nicht von der Katze, ihr Maul blieb verschlossen. Die Sätze waren einfach gleich in meinem Kopf. Soweit bin ich also nun gefallen? Ich höre, wie eine fremde Katze mit mir spricht.
- Bin ja gar nicht fremd, ich lebe nebenan.
Kann diese Katze etwa Gedankenlesen? Bin ich verrückt geworden? - fragte ich erstaunt. Nein, ich fragte nicht laut. Was sollen die Nachbarn bloß denken? Es war eine Frage, die ich gerne ausgesprochen hätte, aber noch bevor ich meinen Mund öffnen konnte, kam die Katze näher und fuhr mit ihrem Kopf unter meine Hand. Ich kraulte sie ein wenig, streichelte über ihr weiches Fell.
- Na, was ist los mit dir, - fragte die Katze und sah mir in die Augen.
- Hm, ich weiß nicht so recht. Ich habe das Gefühl, ich habe zu viel gegessen.
- Schuldgefühle also. War es aber wirklich viel?
- Kann sein. Wobei... Nein, lass mich einen kurzen Rückblick machen. Ein kleines Stück Brot mit Butter, ein halber Apfel, ein halber Teelöffel Honig, eine Handvoll Cornflakes, eine Karotte...
- Und du füllst dich aber, als ob du ein ganzes Schwein alleine verspeist hättest?
- Ja! Woher weißt du das?
Die Katze sagte nichts, sie sprang auf mein Schoß und genoss die Streicheleinheiten, die ich ihr schenkte.
- Warum also glaubst du, dass du zu viel gegessen hast? Warum wäre zu viel essen schlecht? - fragte sie schließlich.
- Naja, ich bin ja nicht zierlich, da darf man nicht so zulangen, sonst nehme ich noch mehr zu.
- Und du hättest gerne abgenommen, was?
Wer hätte das nicht gerne? Wir leben in einer Gesellschaft, in der Schlanksein mit Schönsein gleichgestellt ist. Wer Übergewicht hat, gilt als undiszipliniert, als faul, der lässt sich so gehen, furchtbar, schrecklich. Wie kann man nur? Und wehe, dir gelingt es nicht, diesem Ideal näher zu kommen. Nein, ich meine nicht die Menschen, die manchmal ein wenig zunehmen und dann wissen, oh, ich habe hier und da, etwas zu viel gegessen. Dann streicht derjenige die Snacks und macht wieder etwas Sport – et voila, das Gewicht ist wieder gesunken.
Ich gehöre zu den Menschen, die sich plagen, das Gewicht (und somit den Körper) bekämpfen, immer wieder ein wenig (oder ein bisschen mehr) abnehmen und dann wieder zunehmen. Zu den Menschen, die essen, wenn sie traurig sind. Oder unglücklich oder wütend oder aus Langeweile. Oder weil sie keine Lust haben etwas nur für sich zuzubereiten. Es sind so viele Faktoren.
- Ich sehe, du bist so weit, dass du dir helfen lassen würdest. Beantworte einfach folgende Fragen, - sprach die Katze wieder. - Welche Rolle spielt dein Übergewicht in deinem Leben? Wozu ist es gut? Wobei ist es hilfreich? Warum solltest du NICHT abnehmen? Mich interessiert es ziemlich wenig, weil ich die Antworten eh weiß. Aber du solltest dir da wirklich Klarheit verschaffen.
Nun gut, wenn ich mich schon mit einer Katze unterhalte, dann kann ich ja auch ihren Ratschlägen folgen. So habe ich da Problem noch nie betrachtet. Ich konzentrierte mich und schrieb alles nieder, was mir in den Kopf kam. Hier ist also meine persönliche Liste.
Warum sollte ich NICHT abnehmen?
1. Nicht abnehmen ist toll! Denn wenn du abnimmst (und um Gottes Willen auch noch nicht wieder zunimmst), da wirst du das Problem ein für alle Mal gelöst haben. Mensch, was mach ich ohne dieses Problem? Spinnt ihr? Das ist mein Leben, die Gedanken daran, was ich essen soll und wie und wo und warum – das ist ein großer Teil meines Lebens. Nee, so etwas darf man nicht verlieren, da ist es schon echt besser nicht abzunehmen.
2. Wenn ich abnehme, dann werde ich attraktiv. Und das ist wei-wei-auwei und ach-ach-ach wie Furcht erregend. Denn dann werden auch die Männer auf mich aufmerksam und vor denen hab ich doch Angst. Eine große Angst. Sie lügen doch alle nur und werden auf jeden Fall mich doch alle hintergehen oder mir weh tun. Schon seit dem Kindergarten fürchte ich mich vor Betatschen. Damals hat ein Junge mir eine auf den Hintern geklatscht und meinte so ganz erwachsen: „Boah, was für Schenkel!“. Also NICHT schlank zu sein ist sehr angenehm. Kein kurzer Rock, kein Betatschen.
3. Vor Kurzem habe ich bis zu meinem Idealgewicht abgenommen, ABER um das Gewicht zu halten hätte ich auf Kohlenhydrate verzichten sollen. Auf alle Kohlenhydrate. Nudeln und Brot, na gut, ich komme schon irgendwie ohne klar. Bonbons und süßes Gebäck, na gut, kann man auch mit Trockenobst oder Obst ersetzen. Und meinem geliebten Buchweizen für immer entsagen? Nein! Also, nicht abzunehmen ist toll, weil man weiterhin sein Lieblingsessen essen darf. Man muss sich nicht begrenzen.
4. Wozu ist das Übergewicht noch gut? Es sieht nach Stärke aus. Wie soll ich das nur erklären... Wenn ich korpulent bin (nein, wirklich für dick halte ich mich nicht), dann strahle ich aus, dass ich stark bin. Habt Angst vor mir, ihr meine Feinde! Und die nicht Feinde natürlich auch. Ich möchte so aussehen, dass keinem auch in den Sinn kommt, dass man mich verletzen könnte. Das ist erstens. Und zweitens: es tut so gut sich stark zu fühlen. Es tut so gut, wenn andere deine Stärke bewundern. Ach, du kannst dies und das? Hmmm, wie Balsam auf die Seele.
5. Außerdem hilft Übergewicht das Leben auf später zu verlegen. Ja, genau so! „Ich nehme ein paar Kilos ab und dann... „ Ja, ich werde dann glücklich sein, nicht jetzt, irgendwann später. Vor den Augen hab ich, wie ein Esel, immer diese Möhre am Stab hängen – das Ziel, das man nie erreichen wird. Aber es gibt ein Ziel und da muss man hin streben. Und das heißt, man braucht jetzt noch nicht volle Pulle leben.
6. Und noch ein sehr interessanter Punkt. Dank meines „überschüssigen“ Gewichts bekomme ich ständig eine Portion Leid. Wow, ist das nicht unglaublich? Ich staune selbst über diese Entdeckung. Und dabei bin ich so masochistisch! Nur dass ich das nicht durch Peitschenhiebe ausdrücke. Und dem Mann werde ich das natürlich auch nicht erlauben, das fehlte ja gerade noch. Nein, zuerst begrenze ich mich beim Essen, quäle mich selbst, dies darfst du nicht essen und das auch. Dann kommt ein Fressanfall, Gewissensbisse. Und dann siehst du, dass sich das Gewicht auch nicht nach unten verändert hat, wie ärgerlich, wie schade und wie quälend. Und wenn du begreifst, dass du wieder von vorne anfangen musst – oh, hier hat man garantiert eine Unmenge an quälenden Emotionen.
7. Nicht abnehmen, heißt immer mit sich unzufrieden sein. Nicht nur, dass ich ein Masochist bin, nein, ich bin auch noch perfektionistisch. Alles muss auf eine glatte Eins gemacht werden! Nur fehlt es mir da an Eifer und Sorgfalt, naja, Ausdauer hab ich auch nicht wirklich. Daher bleiben nur die viel zu hohen Anforderungen an sich selbst. Und davon kann man ja wieder genug Leid bekommen. Und wenn ich abnehme, dann werde ich ja perfekt sein. Was soll ich dann bloß machen?
8. Warum sollte ich noch NICHT abnehmen wollen? Welche Nutzen habe ich davon? Ich muss meine Garderobe nicht erneuern. Ich habe nicht viele Kleidungsstücke, aber alle wurden bedacht ausgewählt. Wenn ich abnehme, dann muss ich entweder die Sachen kleiner machen oder neue kaufen. Und ich bin sehr geizig, geizig was mich selbst angeht (furchtbar geizig), sich selbst was kaufen ist für mich sehr schwer, furchtbar schwer fällt es mir, Geld für mich selbst auszugeben. Nicht abnehmen ist also wiederum super. Trage Sachen aus deiner Mini-Garderobe und freue dich des Lebens.
9. Die Rolle von Übergewicht in meinem Leben? Antwort: RIESIG! Und allein diese Erkenntnis ist es wert, dass ich es als einen einzelnen Punkt erläutere. In meinem Leben gibt es meinen Mann, meine Kinder, Familie, Haushalt, Arbeit, Hobbys und noch vieles mehr. Aber für all das bleibt nur die Hälfte (wenn nicht noch weniger) der Zeit. Wie viel Zeit ich schon auf das Begreifen einer neuen Diät verschwendet habe, wie viele Bücher, Artikel und sonstigen Müll hab ich schon über die „richtige“ Ernährung gelesen? Wie viel Kraft kostet es ein neues Ernährungssystem aufzubauen? Und die ständigen Gedanken, was ich gegessen habe und es hätte nicht tun sollen?! Und dann ist man ja auch noch gezwungen sich im Gefängnis der neuen Diät aufzuhalten. Und im Falle eines Misserfolges die Scherben aufsammeln und sich wieder zusammen kleben...
10. Und wozu ist das Übergewicht schließlich und endlich noch behilflich? Es wird wunderbar das Gefühl instand gehalten, dass ich eine Versagerin bin, nichts in meinem Leben erreicht habe und alle meine Anstrengungen nichtig sind. Nichts bin ich wert und werde es auch nie sein. Niedriges Selbstwertgefühl? Ja, ist nicht ohne.

Du meine Güte, wäre ich da nur nicht so gnadenlos ehrlich zu mir selbst! Was da alles hoch gekommen ist! Ich habe Angst vor Männern? Habe ich wirklich? Ja, eine allumfassende! Ich fühle mich als Versagerin? Yeap. Ich bin masochistisch? Und wie! Geizig und perfektionistisch? Na, klar! Oh je, da steht mir aber viel Arbeit bevor... Die Katze war aber inzwischen verschwunden und ich raffte mich auf, die Kinder abzuholen.

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